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AutorenbildChristine Ubeda Cruz

Paul und das grüne Herz

Aktualisiert: 14. März

drei Männerköpfe mit zugehaltenen Augen, Mund und Ohren
no see - no speach - no hear

Da stehen sie. In der Ecke. Im Supermarkt oder Discounter. Kaum beachtet. In ihren schwarz-grauen Töpfen. Auf einem dieser praktischen Gitterwagen. Oder flächendeckend auf Paletten. In ausgelaugter Erde. Mit Trockenheitsrändern. Gelben herunterhängende Blätter. Ärmlich wirkende Blüten. Halbtote Primeln, in Plastik erstickende Orchideen oder zu Tote gewässerte Kakteen.


Dort stehen sie auch. In der Klinik. Beim Arzt. In der Arbeitsagentur. Der Bank. Und in der städtischen Verwaltung. Meist im Wartebereich. Sollen Gemütlichkeit und Natürlichkeit vermitteln. Für ein gutes Raumklima sorgen. Die Gummibäume, Palmen, Birkenfeige. Ganz einsam. In ihrer Ecke. Staubig. Meist vertrocknet. Vernachlässigt. Oder fast ertränkt.


Könnten die Gummibäume, Monsteria, Strelitzien, Sansieveria, Phalaenopsis, Hyazinthen oder Primel für jeden hörbare Töne von sich geben, würden wir Menschen uns sofort kümmern. Vielleicht!?! Aber: wir hören nichts. Und tun nichts. Sehen nicht das Leid. Oder wollen es nicht. Wir ignorieren es.*


Aufschrift auf Wand: Lass uns'n Wunder sein!
Steht in Berlin an einigen Wänden: Lass uns'n Wunder sein!

Da steht er. Nennen wir ihn Paul. Heute wird er nicht ignoriert. Nein, gerade steht er im Mittelpunkt. Der Fokus liegt auf ihm. Er ist angeklagt. Ihm werden verschiedene Vergehen zur Last gelegt. Einbruch und schwerer Diebstahl. Seine Einlassungen dazu: „Sie können doch nicht schreien! Ich musste helfen! Ich habe sie nicht gestohlen. Ich habe sie entführt! Und ihnen dann geholfen. Sie aufgepäppelt und gepflegt. Die allermeisten haben überlebt. Und viele habe ich auch wieder zurück gebracht.“


Der Polizist schildert Pauls Wohnung als urwaldartig. Und der baufällige Schuppen im Hinterhof wirke wie eines der großen Gewächshäuser im Frankfurter Palmengarten. Feucht-warm. Voller kräftiger grüner Pflanzen und duftender Blüten. Fast wie ein Paradies in der betonlastigen Innenstadt.


Paul sagt:„ Das mache ich schon immer. Bereits als Kind habe ich aus dem Gemeindehaus, der Schule, aus dem Wartezimmer beim Arzt oder Ämtern halbtote Pflanzen mitgenommen. Mit nach Hause. Und ihnen geholfen. Sie mit mehr oder weniger Wasser versorgt, beschnitten, ihnen frische Erde gegeben oder sie in größere Töpfe umgepflanzt. Sie gesund gepflegt. Manchmal habe er sie zurück an ihren ursprünglichen Platz gebracht. Oft aber auch an vertrauenswürdige Leute übergeben. Schon aus Platzgründen. Sie immer wieder besucht. Um sicherzustellen, dass sie es auch wirklich gut haben.“


Die Richterin schmunzelt. Und donnert im selben Moment los: „Aber das rechtfertigt doch keinen schweren Raub! Den Sie generalstabsmäßig geplant haben. Sie liehen sich einen Pritschenwagen. Engagierten Helfer. Knackten den Sicherheitscode der Absperrung am Verbrauchermarkt. Und gelangten so auf das Gelände. Allein das erfüllt schon den Tatbestand des Hausfriedensbruch. Und dann entwendeten Sie Kistenweise Pflanzen. Laut dem Filialleiter des Marktes handelte es sich dabei um mehrere Hundert Olivenbäumchen, Margeritensträucher und Palmen. Das ist schwerer Diebstahl!“


Paul antwortet selbstbewusst und ohne jegliches Anzeichen von Reue:“Wenn ich das nicht getan hätte, hätte dies ein Massensterben zur Folge gehabt. Die Pflanzen waren allesamt in einem erbarmungswürdigen Zustand. Fast vertrocknet, an den Stämmen verletzt. Total gerupft, wie nach einem heftigen Sturm. Die Lagerarbeiter haben sie ungerührt stehen lassen. Zum Sterben. Ich habe quasi „Leben gerettet“! Nun geht es ihnen schon besser. Sie stehen in Oberrad auf einem Feld und genießen ihr Wachstum. Möchten Sie ein Olivenbäumchen haben?“


Lächelnd schüttelt die Richterin den Kopf und unterbricht die Sitzung für die Mittagspause.


Paul trottet in den Hof des alten Gerichtsgebäudes. Während er an seiner Brotstulle knabbert, macht er sich Notizen für die Fortsetzung der Verhandlung:


„Schon immer sei ihm dieses millionenfache Dahinsiechen, das Leid der Pflanzen gewaltig gegen den Strich gegangen. Er könne das nicht mit ansehen. Und deshalb kümmere er sich um die Gewächse. Er habe dafür nie Geld verlangt. Auch nicht für die sehr große Azalee, die er mit dem Hinweis, er sei der bestellte Gärtner, aus einem Modegeschäft gerettet hatte. Nachdem er sie aufgepäppelt habe, hätte er sie wieder zurückgebracht. Ihm sei die liebevolle Pflege wichtig. Der Erhalt ihres Daseins.“


Weiter führt er aus: „Bitte inhaftieren sie mich nicht! Denn wer soll sich dann um all die Pflanzen kümmern?“ ….





EPILOG


Paul wurde nicht inhaftiert. Der Filialleiter des Verbrauchermarktes bot ihm eine ehrenamtliche Stelle als „Pflanzen-Kümmerer“ an. Inklusive Werkzeug, Wasser, Dünger, frischer Erde etc. Für die Pflanzen in seinem Markt. Und für die in Pauls Obhut. In der Wohnung, in dem alten Schuppen und auf dem Feld in Oberrad. Nun - einige Wochen später sind zahllose „Pauls“ in Frankfurt unterwegs. Sie alle haben nur eine Mission: Das sinnlose Sterben der Zierpflanzen zu verhindern.







*Wie, leider, auch bei ganz vielen anderen Situation. Irgendwie scheint das Prinzip „No See, No Hear, No Speak“ tief in ganz vielen Menschen verwurzelt zu sein.



Idee entliehen von Eva Demski




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