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AutorenbildChristine Ubeda Cruz

Wie, Du kennst Harry nicht?


Drei Personen, nebeneinander sitzend, die auf ihr Smartphone schauen
Ständig und immer: Der Blick auf's Smartphone

Ob das eine Bildungslücke oder nur dem „normalen“ Verhalten von Passagieren in der S-Bahn geschuldet ist, musst Du selbst entscheiden.

Oder hier nachlesen 😜

Du fährst jeden Tag mit der S9 zur Arbeit. Montags bis Freitags. Immer in der selben S-Bahn. Zur selben Zeit. Mit (fast) den selben Menschen. Und Du, Du sitzt auch immer auf dem selben Platz. „Deinem“ Platz. Bist sauer, sollte er ausnahmsweise mal durch einen ahnungslosen anderen Fahrgast besetzt sein. Sitzt da. Vertieft in Dein Smartphone. Liest die Börsenkurse. Oder deine digitale Zeitung. Oder was auch immer. Schaust ohne Unterlass auf das kleine Display. So, wie es die meisten anderen Passagiere auch tun. Das was Du da siehst oder liest scheint nicht besonders spannend zu sein. Dein Gesicht zeigt nie auch nur den Hauch einer Emotion. Und, da Du den Blick auch nie im S-Bahn-Wagen schweifen lässt, entgeht Dir so einiges. Vielleicht das echte Leben. In seinen so unterschiedlichsten Facetten. Laut. Leise. Geschminkt. Und oft auch vollkommen ungeschminkt. Total real. Und so entgeht Dir auch Harry.

Du fragst: „Und warum sollte ich Harry kennen? Warum sollte ich ihm etwas meiner Aufmerksamkeit widmen? Oder gar Interesse an ihm haben?“

Du bist zwar da, aber nicht hier

Ach Du armer "Nichtsahner"! Du hast keine Vorstellung darüber, was jeden Morgen, Montags bis Freitags, um 7.24 Uhr in der S9 so vor sich geht. Weil Du einfach alles ausblendest. Dich komplett in eine andere Welt zurück ziehst. Hast Deine Scheuklappen auf und wahrscheinlich auch noch die Ohren verstöpselt. Sitzt zwar da, bist aber nicht hier. Körperlich anwesend aber geistig weg. Und fixierst Dein Handy. Würde Rodin noch leben, würde er eine Neufassung seiner Bronze „Der Denker“ gestalten. Die Namensfindung für die Plastik würde ihn allerdings vor eine besondere Herausforderung stellen… Vielleicht der/die Daddelnde? Oder Swipende?


Die Skultptur "Der Denker" von Rodin
Rodin " Der Denker" (Foto unsplash)

















Also: Du hast keine Ahnung wer Harry ist. Er ist der Mann, der jeden Tag in der selben S-Bahn, zur selben Zeit, im selben Wagen wie Du bist. Der zwei Sitzbänke hinter Dir „seinen“ reservierten Platz hat. Der Mann, der neben seinem Körper, Kopf und seinen beiden Händen zwei weitere Arbeitsmittel mit sich führt. Eines davon ist ziemlich spektakulär. Vor allem in einer S-Bahn voller Pendler, die im edlen Zwirn Richtung Büro unterwegs sind. Dir ist noch nie dieses einmalige Duftgemisch aus zartem Benzin-Bouquet und frisch geschnittenem grünen Gras sanft und einigermaßen irritierend um die Nase geweht? Diese olfaktorische Besonderheit inmitten von Schweiß, Parfüm und Kaffeeduft? Also: Du hast wirklich noch nie wahrgenommen, was Harry jeden Morgen in den Zug schiebt? Ein großes, schweres, altmodisches Teil. Mit Benzinmotor und großen Auffangsack aus Tuch.

Du schüttelst, kaum merkbar, den Kopf. Nein, Du hast noch nie nicht wahrgenommen, dass dieser Pendler, also Harry, täglich einen großen, mächtig alten Rasenmäher mit sich führt. Und genau an dieser einen bestimmten Tür parkt.


Sein zweites Objekt ist nicht ganz so spektakulär. So etwas haben viele Pendler auf dem Weg zur Arbeit dabei. Nur nicht so groß. Seines sieht gebraucht aus. Und nicht so edel. Dafür aber sehr schwer. Ausgebeult. Und voll gestopft. Was da wohl alles drin verstaut ist? Schwer und scheinbar vornübergebeugt steht sein alter, tarngefleckter Rucksack an der S-Bahn-Tür.

Harry pflegt seine festen morgendlichen Rituale. Der Rasenmäher „parkt“ immer an der gegenüberliegenden Tür. Die, die erst im Osten der Stadt für den Ein- und Ausstieg genutzt wird. Der Rucksack lehnt immer an der linken Seite der sich an jeder Station öffnenden Tür.

Die ist nun geschlossen. Und Harry zurrt zielsicher die große Außentasche auf. Alles scheint bei ihm seinen festen Platz, seine Ordnung zu haben. Mit großer Zufriedenheit klemmt er sich eine alte, zerbeulte Thermoskanne unter den einen Arm. Aus einer der seitlichen Tasche zaubert er eine rosafarbene, glitzernde Brotdose hervor, die wahrlich besser zu seiner Enkeltochter als zu ihm passen würde. Wenn er denn ein Enkelkind hätte… Dem großen Hauptteil des Gepäckstücks entnimmt er heute ein auffälliges, altmodisch wirkendes Frotteetuch mit großen, gelben Sonnenblumen. Das breitet er äußerst sorgfältig auf „seinem“ Platz, über Rückenlehne und Sitzbank aus, nachdem er Thermosflasche und Brotdose abgestellt hat. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck lässt sich Harry nieder. Schaut versonnen schmunzelnd in den Sonnenaufgang zwischen den Hochhäusern Mainhattens, bevor die S-Bahn in den Tunnel zum Hauptbahnhof fährt.

Du schüttelst den Kopf. Und denkst: Muss ja ein merkwürdiger Kauz sein, der ein Badetuch auf der Sitzbank der S-Bahn ausbreitet und mit ‚nem Rasenmäher reist? Aber - hey - warum nicht!?

Tja, das ist er - vielleicht. Aber das entgeht Dir. Täglich. Weil Deine Augen wie von einem Magnet in diesem Smartphone angezogen werden. Und Du das Wesentliche somit übersiehst.

In diesem Fall siehst Du nicht den Harry. Besser gesagt: Den nackten Harry!!! Der Harry, der seit Jahren unbekleidet, bis auf ein paar Schlappen, S-Bahn fährt. Und auch so durch die Stadt läuft. Der einzige Harry, der das darf. Weil er keinem was tut. Immer höflich ist. Nie aufdringlich. Natürlich einen Fahrschein hat. Sicher in seinem Rucksack. Aber irgendwie keine Kleidung auf seiner Haut ertragen kann oder mag. Harry ist ein Frankfurter Original! Und Du siehst ihn nicht. Schade. Jetzt schau weiter auf Dein Smartphone. So wie alle anderen auch. Da wirst Du ihn nicht sehen. Den nackten Harry! Schade - oder?


 


Rasenmäher und schwerer Rücksack in einer S-Bahn
Ob der Rasenmäher auch einen Fahrschein braucht?

Dieser Artikel ist im Rahmen eines virtuellen Schreibtreffens mit Meike Blatzheim unter dem Motto „Betreutes Schreiben“ entstanden. Dieses Foto war ihr Schreibimpuls.











Tatsächlich gab es Ende der 1980/Anfang 1990iger Jahren den nackten Jörg in Frankfurt. Nur mit ein paar Latschen bekleidet ging er sommers wie winters durch die Stadt und erlangte, dank Lonley Planet und diverser touristischer Werbefilme, weltweite Berühmtheit. Was aus ihm geworden ist, ist leider nicht bekannt. Anfang 2022 widmete sogar die alt-ehrwürdige FAZ ihm einen Artikel.





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